Lupenzeit
Diese Sammlung von Kurzgeschichten entspringt autobiografischen Erfahrungen und Erlebnissen. Die zeitlosen Texte sprechen von persönlichen Begegnungen, schmerzhaften Erinnerungen und lustigen Begebenheiten. Jede Geschichte enthält eine Dramatik, die aufgrund der Umstände einzigartig ist. Leben und Tod sprechen in allen Schattierungen aus ihnen hervor – die Leserin bzw. der Leser kennen ähnliche Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben.
In der Manier einer Zeitlupenaufnahme werden die kurzen Texte präsentiert. Dadurch bekommt jede Geschichte ihr eigenes Gesicht und Gewicht. Komik und Tragik verbinden sich zu einem untrennbaren Ganzen.
Hörprobe
Textauszug
9/11
Gerade hatte ich die Mittagsnachrichten im Fernsehen eingeschaltet, als ich den Turm mit seiner schwarzen Rauchfahne erblickte, vor dem ich viele Jahre zuvor selber einmal gestanden hatte. Es war an einem Dienstag, kurz vor Mittag. Eigentlich sollte ich an einem Arbeitslunch teilnehmen, zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen, oben im Sitzungszimmer. Gebannt stand ich im Klassenzimmer und starrte auf den Bildschirm meines TV-Geräts, auf dem sich Ungeheuerliches ereignete. Die Live-Schaltung war echt, kein Zweifel. Es handelte sich nicht um einen jener Spielfilme der übelsten Sorte. Nein, da war alles echt: die Türme, das Feuer, der Rauch, die Reporter, das Geschrei der Menschen und das Heulen der Sirenen. Bald war mir klar, dass keine Feuerwehr der Welt dieses Unheil stoppen oder den angerichteten Schaden wieder gutmachen konnte. Aber trotz allem sagte eine Stimme in mir, dass dies alles nicht real sein konnte.
Nach wenigen Minuten sprang ich die Treppe hinauf ins Sitzungszimmer, wo sich bereits einige Kollegen aufhielten. Ich berichtete ihnen vom eben Gesehenen, worauf wir gemeinsam wieder nach unten rannten und bestürzt die unfassbaren Bilder widerwillig in uns aufsogen. Es konnte einfach nicht sein, dass ein Turm von dieser Grösse in Flammen stand. Und kurz darauf auch der zweite. War es ein Flugzeug oder nur der dunkle Schatten eines solchen? Die ungeheure Explosion liess das Schlimmste erahnen. Kurze Zeit später sah man, wie sich an den Seiten der vierhundert Meter hohen Gebäude Menschen in den Tod stürzten, um nicht in den Flammen umzukommen. Es war surreal und unvorstellbar, dass sich so etwas ereignen konnte. In schlechten Hollywood-Streifen taucht an dieser Stelle und just in diesem Augenblick jeweils ein Held, ein Superman, auf, um das Böse aufzuhalten und die Unschuldigen zu retten. Aber vergeblich hofften wir auf einen Deus ex machina. Sogar die Kameraleute schienen ihren Augen nicht zu trauen. Jedenfalls liessen sie das Bild stehen, das für sich sprach und das keine kurzatmigen Schnitte benötigte, um unser Blut gefrieren zu lassen. Die schwarze Rauchfahne wurde immer länger und dichter, sie bedeckte das ganze Stadtzentrum und setzte sich in unseren Seelen fest.
Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte ein Kollege, wir sollten jetzt eigentlich die Sitzung abhalten. Er verliess das Zimmer und die anderen folgten ihm. Schliesslich machte ich mich widerwillig ebenfalls auf den Weg nach oben, ohne den Fernseher auszuschalten, in der Hoffnung, bei meiner Rückkehr ein Happy End vorzufinden. Die Sitzung verlief ohne mich. Die beiden brennenden Türme und die schwarze Rauchfahne vernebelten mir den Blick auf die Traktandenliste. Ich vernahm zwar die Stimmen meiner Arbeitskollegen, ihren Ausführungen vermochte ich jedoch nicht zu folgen. Mein ganzer Körper war von einer tiefen Ungläubigkeit verschlungen worden und liess mich keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Ausserdem erschienen mir die besprochenen Themen derart nichtig und klein, angesichts dieses historischen Unheils, welches die Welt für immer verändern würde. Und dabei meinte ich nicht nur die Welt, sondern auch meine Welt mit ihren Gesetzmässigkeiten und Regeln. Die unterschiedlichen Realitäten drohten mich zu zerreissen, aber ich verharrte am Tisch bis zum bitteren Ende der Sitzung.
Als ich wieder ins Klassenzimmer kam, bot sich mir der gleiche Anblick wie zuvor. Nur dass das Feuer sich inzwischen durch zusätzliche Stockwerke gefressen hatte und die Rauchsäulen der beiden Türme noch dunkler und bedrohlicher waren. Ich hockte mich auf die vorderste Bank und versuchte mich zu fassen. Da passierte, was ich von Anfang befürchtet hatte, aber nicht zu denken wagte. Der erste der beiden Türme sackte sekundenschnell in sich zusammen, kurz darauf auch der zweite. Während mir der Atem stockte und ich nach Luft rang, schossen mir Tränen in die Augen. Tränen der Trauer und Tränen der Wut. Trauer über die Tatsache, dass mein heiles Bild der westlichen Welt wie ein Kartenhaus einstürzte. Wut auf jene Menschen, die imstande waren, eine solche Schandtat zu vollbringen. Und während für die Helfer und Opfer in Manhattan jede Minute, jede Sekunde zählte, blieb für mich an jenem Dienstagnachmittag einen Augenblick lang die Zeit stehen.
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