
Ein «Sieg» des Establishments
Die heutigen Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats waren in Tat und Wahrheit und damit wörtlich genommen keine. Bestätigt wurden alle bisherigen Magistratinnen und Magistraten mit teilweise hervorragenden Resultaten. Dabei ging es eigentlich nicht um einen Beliebtheitswettbewerb, wie ihn die Medien regelmässig veranstalten, sondern um die Zusammensetzung unserer Landesregierung für die kommenden Jahre. Die Ausgangslage war alles andere als klar: Soll man einen amtierenden Bundesrat bzw. eine amtierende Bundesrätin abwählen? Soll man eine Sprachregion aus dem Bundesrat kippen? Soll man die Zauberformel sprengen? Oder soll man den Wählerwillen nach den Parlamentswahlen vom 20. Oktober 2019 auch im Bundesrat abbilden? Soll der Bundesrat in Zukunft auch durch eine Vertretung des grünen Lagers ergänzt werden?
Das Resultat wurde eben bekannt gegeben: Während der FDP-Bundesrat Ignazio Cassis auf 145 Stimmen kam, erreichte die Grüne Regula Rytz lediglich 82 und schied damit bereits im ersten Wahlgang aus. Wie soll dieses Ergebnis nun interpretiert werden? Im Vorfeld der Wahlen wurde viel diskutiert, erklärt sowie auch spekuliert. Mit der Absage der Mitte-Parteien unter der Führung der CVP, die Grüne Kandidatin Rytz auch nur zu einem Gespräch einzuladen, waren die Würfel eigentlich bereits gefallen. Obwohl die grüne Bewegung rein rechnerisch einen Anspruch auf einen Sitz hätte, war rein rechnerisch ebenso klar, dass die Parteien der Rechten und der Mitte die Wahl von Rytz verhindern würden. So ist es auch gekommen. Ob man nun von Stabilität oder Machterhalt sprechen will, wird die Medien in den nächsten Tagen beschäftigen.
Für mich ist wieder einmal eine Chance verpasst worden, die junge, grüne Bewegung in die Politik einzubinden, und es wird sich weisen, wie weise dieser Entscheid unseres Parlaments war. Entscheidend für diesen «Sieg» des Establishments (ein Wort aus der 68er Bewegung) war auf jeden Fall die Haltung der CVP und ihrer Verbündeten. Ein Sieg, auf den sie sich mittelfristig gar nichts einbilden kann. Auch die FDP wird kaum hoffen dürfen, ihren zweiten Sitz mittelfristig halten zu können. Also interpretiere ich persönlich den heutigen Entscheid eher als ein Versuch zur Machterhalt. Und wohin dies führen könnte, zeigt sich aktuell in vielen anderen demokratischen und autoritären Staaten unserer Welt.