Ein Kopf-an-Kopf-Rennen

Schon anlässlich meines Auslandaufenthalts in Brasilien von 1980 bis 1984 wurde mir immer gesagt: Die Brasilianer sind keine Revoluzzer wie die Bewohner der einstmals spanischen Kolonien Süd- und Mittelamerikas. Es sind lebensfrohe, friedliche Menschen, die miteinander auskommen und auch gegenüber Fremden zuvorkommend und freundlich sind. Insofern ist auch die Politik grundsätzlich nicht von Hass und Eifersucht geprägt, sondern wie das Alltagsleben insgesamt von einem teils religiösen, teils apolitischen Fatalismus. Heutzutage, 40 Jahre später, macht sich dies bei der anstehenden Stichwahl zur Präsidentschaft in Form einer Politikmüdigkeit, wenn nicht gar einer Politikverdrossenheit bemerkbar.

Brasilien ist wie viele heutige Staaten tief gespalten. Nicht nur in Europa und den USA protestieren Menschen gegen ihr aktuelles Regime (autokratisch oder nicht). Der gesellschaftliche Graben verläuft dabei mal zwischen links und rechts, reich und arm, jung und alt oder progressiv und konservativ. Ein Zusammenführen der Lager scheint momentan nicht möglich – die Hürden dazwischen unüberwindbar. Die Unzufriedenheit der Brasilianer mit ihren Regimes hat eine lange Geschichte. Nach dem Ende der Militärdiktatur in den 80er-Jahren amteten Politiker verschiedener Herkunft und Couleur, u.a. auch der jetzige Kandidat Luiz Inácio Lula da Silva, der bereits einmal von 2003 – 2010 Präsident des Landes war. Doch seine Regierungszeit war von etlichen Skandalgeschichten geprägt sowie der nachfolgende Gerichtsfall wegen Korruption. Auch Jair Bolsonaro besitzt nach 4 Jahren Amtszeit keine reine Weste mehr und hat sich mit seiner Umwelt- und Gesundheitspolitik keine Lorbeeren verdient. Das knappe Resultat von 48% (Lula) zu 43% (Bolsonaro) deutet auf eine enges Kopf-an-Kopf-Rennen hin im Finale vom 30. Oktober. Beiden Kandidaten wird ein Sieg zugemutet, eine Prognose ist deshalb entsprechend schwierig. Klar ist jedoch, dass die Zukunft des Landes eine ganz andere sein wird, je nach dem wer vom Volk gewählt werden wird.

Klar ist auch, dass sich die Kluft zwischen den Lagern im Wahlkampf noch weiter vertiefen wird und welches Resultat auch immer das Land tief gespalten zurücklassen wird. Ausserordentlich bedauerlich in Anbetracht des Umstands, dass Brasilien während Jahrzehnten als “Land der Zukunft” galt. Heute ringt es darum, den Anschluss an die modernen, industrialisierten, demokratischen Staaten nicht zu verlieren.

 

Bildquelle: France24

Peter Joos

5. Oktober 2022

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