Der Hochseilakt

Selten hat eine Abstimmung so hohe Wellen geworfen wie die KVI, die Konzernverantwortungsinitiative. Zusammen mit der Kriegsgeschäfteinitiative kommt sie am kommenden Sonntag zur Abstimmung. Zu beiden Vorlagen habe ich mich bereits früher geäussert. Beide Anliegen der Initianten sind meines Erachtens absolut vertretbar und unbestritten – nur sind der Weg und die Mittel der Grund für heisse Diskussion in diversen Medien. Ausserdem spalten sie alle Schichten der Bevölkerung von den Generationen über die Parteien bis hin zu Arbeitnehmern und -gebern sowie den Kirchen. Vor allem letztere tun sich schwer mit der KVI, wollen sie doch weder die einen noch die anderen Exponenten verärgern.

Eine neutrale Haltung bei solch wichtigen Themen gibt es aber leider nicht, vor allem nicht, wenn man diese wichtigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und somit politischen Fragen einfach ausblenden möchte. Neutralität ist die Kunst, beide oder alle Seiten in einen Prozess einzubeziehen und beide oder alle Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Neutralität heisst nicht einfach, wir schweigen zu diesen Fragen. Im Gegenteil, sie ist die Chance für einen echten Dialog. Wie sonst könnte die Schweiz immer wieder ihre guten Dienste in heiklen politischen Situationen anbieten können? Neutralität hat vielmehr mit Diplomatie zu tun. Einer Diplomatie, die sich bewusst ist, welche Haltungen und Aussagen welche Konsequenzen haben können. Einer Diplomatie, die sich nicht verschliesst, sondern offen bleibt für alle möglichen und unmöglichen Meinungen, Haltungen und Forderungen.

Zensur und Unterdrückung führen längerfristig nie zum Ziel, seine eigenen Anliegen nachhaltig durchzusetzen. Die unterlegene Seite wird keine Ruhe geben. Die Folgen sind Widerstand, Aufruhr, Aufstand, Revolution. Gerade wir Schweizer*innen haben gelernt, dass man immer wieder auf einander zugehen muss, um tragfähige Kompromisse zu finden bzw. Lösungen, die allen ein bisschen wehtun, aber bei denen niemand das Gesicht oder die Geduld verliert. Mit dieser Fähigkeit lassen sich auch Konflikte im Kleinen besser lösen, weil auch der oder die Schwächere sich einbringen kann und dadurch eine unbeabsichtigte Eskalation vermeiden lässt.

Geben wir dem Pro und Kontra in unserer Demokratie weiterhin eine Chance, ja, halten wir sie hoch und pflegen wir sie in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens. Und ja, es ist ein Hochseilakt – aber so lange niemand wirklich in den Abgrund fallen will, bleibt es die einzige Chance, miteinander die Probleme unserer Zeit und unserer Zukunft zu lösen.

Bildquelle: Silvan Wegmann, Hochseilakt

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